Betrug fliege heute deutlich schneller auf als früher und dennoch laufen auf Radiosendern nach wie vor sinnlose Inszenierungen. Da gibt es Gewinnspiele, deren Gewinne allerdings gar nicht ausgezahlt werden oder man schafft künstliche Skandale. „So manche angebliche Höreraktion entpuppt sich hinterher als reines PR-Konzept des Senders.“ Beliebt ist beispielsweise ein Gewinnspiel, bei dem Radiosender von Hörern eingereichte Rechnungen begleichen. „Regelmäßig möchten sich Hörer angeblich moralisch fragwürdige Dinge wie einen Sexurlaub in Thailand oder eine Abtreibung bezahlen lassen. Sender lassen dann die Hörer in aufheizten Diskussionen im eigenen Programm wie auch in den sozialen Medien aufeinander losgehen.“ Solche Aktionen liefen oft verstärkt, wenn die Hörerzahlen erhoben werden.
Aufmerksamkeit um jeden Preis: Alles für die Einschaltquote
Anders als bei der Einschaltquote des Fernsehens, gibt es beim Ermitteln der Hörerzahlen keine Testhaushalte, deren Medienkonsum gemessen wird. Stattdessen finden telefonische Umfragen statt, bei denen nachgehakt wird, wer wann welchen Sender gehört hat und welche Sender man überhaupt kennt. „Die Erinnerung von Menschen ist manipulierbar“, kritisiert auch Müller. „Niemand führt ein genaues Protokoll und kann genau sagen, wie lange er was in der vergangenen Woche gehört hat. Man könnte auch böse formulieren, dass die Quote nicht den Hörkonsum abbildet, sondern nur wer sich an den Namen des Senders zum Zeitpunkt des Anrufs erinnert.“ Die Methode ist zwar schwammig, aber daraus ergibt sich für Sender eine harte Währung: Je mehr Hörer (angeblich) einschalten, umso teurer sind Werbezeiten.
Daher sollen künstliche Aufreger und „Skandale“ die Sendernamen in das Unterbewusstsein und Gedächtnis der Hörer einbrennen. So ist es wahrscheinlicher, dass sich ein Teilnehmer der Umfrage erinnern kann. „Es ist legitim, dass Radiosender bekannt werden wollen, die Methoden sind es mitunter allerdings nicht und schaden der ganzen Branche.“
Kollaborateure wider Willen
Doch warum lassen sich Radiomacher auf den Betrug am Hörer ein? Für viele sei es im Laufe der Zeit normal zu schummeln. So geht einem Moderator das „Guten Morgen“ mitunter leicht von den Lippen, mit dem er ein Interview beginnt, welches zwar im Morgenprogramm läuft, allerdings schon vorher aufgezeichnet wurde. „So etwas wird den Kollegen beigebracht.“ Zudem seien viele von ihnen freiberuflich tätig und fürchteten bei geäußerter Kritik berufliche Nachteile. Erschwerend käme die dünne Personaldecke bei manch einer öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalt hinzu und auch private Sender verspürten vermehrt finanziellen Druck. Daher müssen wenige Mitarbeiter viele Themen umsetzen – dann fehlt oft die Zeit, das eigene Handeln zu hinterfragen.
Da viele Praktiken als normal gelten, werden die Forderungen von „fair radio“ oft als weltfremd bezeichnet. Mit dem Ethik FAQ zeigt die Initiative jedoch auf, wie leicht sich ethischer Rundfunk etablieren lässt. „Man kann etwas richtig machen, ohne dass es jemandem weh tut oder sperrig klingt. Oft muss man dafür nur ein wenig anders formulieren“, sagt Müller und ruft ihre Kollegen auf: „Seid ehrlich, lasst euch nicht zu einem Kasperletheater hinreißen und macht euch nicht angreifbar.“
„fair radio“ geht daher auch gezielt auf junge Radiomacher, wie Volontäre und Praktikanten zu, da diese öfter fragwürdige Methoden kritisieren und noch nicht vom Medienalltag „versaut“ seien.